Rabiusa

Es wäre falsch, anzunehmen, dass die Rabiusa bei Rabius in den Vorderrhein mündet. Das Dorf mit diesem Namen liegt viel weiter westlich zwischen Trun und Disentis.

Die Rabiusa entspringt am Bärenhorn beim Pass über den Safierberg und mündet nach guten 30km bei Ilanz in den Vorderrhein. Ich fahre mit dem Postauto von Versam bis Safien-Platz. Zu Fuss wechsle nach etwa 300 Metern Strasse auf den Pfad, welcher dem Bachlauf Richtung Norden folgt.

Das Rauschen des nahen Wassers begleitet mich auf dem gut ausgeschilderten Weg mit der Nummer 735, und ich bilde mir ein, dass es mir ganze Geschichten erzählt vom beschwerlichen Leben, das die Menschen hier geführt haben müssen. Sie stammten ursprünglich aus dem Oberwallis, was den Baustil ihrer Häuser und ihre Sprache bis heute belegen.

Der Fluss ändert laufend sein Gesicht. Mal verzweigt er sich in etliche Seitenarme im breiten Bett, mal zwängt er sich schmal durch Engnisse, dort wo der steile Fels bis an sein Ufer stösst. Ab und zu erhält er Zuwachs vom rechtsseitigen Heinzenberg oder von den spitzen Dreitausendern zur Linken.

Für wenige Meter wechsle ich bei Neukirch die Talseite, wo wie auf einem Podium die Gebäude von Grafa thronen. Aber der Weg endet schon bald wieder, weil weiter unten der östliche Hang einfach zu steil ist. 

Nach dem künstlich aufgestauten See bei Carfil wird das Tal zur Schlucht und der Weg ist fast nur für Schwindelfreie gangbar. Also weiche ich aus und steige hinauf, erst zur Hauptstrasse bei Egschi und dann in engem Zickzack durch den Rönggawald zu den sonnenbeschienenen Weiden von Tenna. Das Dorf liegt auf etwas über 1600müM und vereint mit Ausser- und Innerberg drei Fraktionen.

Bekannt geworden ist der Ort mit seinem weltweit ersten Skilift, der mit Sonnenergie betrieben wird. Die an Seilen schwebenden Panele liefern jedoch fast viermal so viel Strom, wie die Liftanlage tatsächlich benötigt.

Lange Zeit, also Jahrhunderte, bildete des Dörfchen hoch über der Rabiusa eine eigene Gemeinde. Erst am Silvester 2012 endete diese Selbständigkeit, Tenna wurde zusammen mit Versam, Safien und Valendas Teil der Gemeinde Safiental.

Die Gründung des Ortes geht zurück auf eingewanderte - oder gar umgesiedelte? - Walser im Mittelalter, also zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert. Das Dorf entstand damals auf dem höchsten Punkt des Aclatobels, dort, wo heute das Tenner Chrüz steht. Durch Rodungen wurde in der Folge das Gebiet rundum bewohn- und auch benutzbar gemacht. Es bildete die Lebensgrundlage der Bauern, die auf den Weiden ihr Vieh halten konnten. Ackerbau war nicht möglich, aber in kleinen Gärten wurde vor den Häusern trotzdem Gemüse gezogen.

Den Namen Tenna trifft man im ausgehenden 14. Jahrhundert als Thena, Thäna oder auch Thenna, was einen geschlossenen Platz zur Lagerung von Geräten und Futter, wie Heu, bezeichnet. Er kommt auch in gleicher und ähnlicher Form im italienischen Trentino und Piemont vor.

Im 20. Jahrhundert galt Tenna als sonniger und vorallem ruhiger Luftkurort ohne Ramba-Zamba, dafür einem Atem beraubenden Weitblick in die Bündner Alpengipfel. Heute betreibt der Ort einen sanften Tourismus, Berglandwirtschaft und bezieht zum Überleben dringend nötige Unterstützungszahlungen durch Bund, Kanton und Patengemeinden in der ganzen Schweiz.

Seit der Saison 2011/2012 betreibt Tenna den weltweit ersten, und bis heute einzigen, Solarskilift. Über der 450m langen Trasse schweben an Drahtseilen 82 Solarwings mit je drei Panels, präzise der Mittagssonne zugewandt. Sie liefern 90’000 kWh Strom, von denen der Betrieb des Skilifts lediglich einen Drittel benötigt.

Der Bau dieser Anlage ist der unermüdlichen Arbeit der Genossenschaft Skilift Tenna, die sich gegen etliche laute Kritiker durchsetzte und heute auf eine äusserst erfolgreiche Bilanz zurück schauen kann. Der Verkauf des überschüssigen Stroms amortisiert den Mehraufwand des Baus.