Von Pesciüm (Airolo) nach Bedretto
Marschzeit 3h
Strecke 10.4 km auf 459 m ab 782 m
Karte/n 1:50'000 265T
Anforderung:
Meine Devise, nie zu Fuss auf dem mühsamen Zickzackweg einen Berg zu ersteigen, wenn über dem Kopf eine Seilbahn fährt - oder auch nie neben einer Skiliftspur sich mit den Fellen durch den Schnee zu quälen, kommt auch hier zum Tragen. Ich glaube, dass sich dies nur Masochisten antun, und denen wird‘s wohl auch Spass machen.
Ich lasse mich also von Airolo, beziehungsweise vom grossen Parkplatz jenseits des künstlichen Wasserbeckens, von der Seilbahn gemütlich empor hieven. Das gibt mir Gelegenheit, nach unten zu schauen und zu staunen, wie man ein Tal völlig kaputt bauen kann. Ich weiss nicht, wieviele Quadratmeter Asphaltfläche pro Einwohner hier gezählt werden können, es muss auf jeden Fall Schweizerrekord sein!
Auf der Alp Pesciüm verlasse ich die Gondel und genehmige mir zuerst einen Kaffee, um auf Touren zu kommen, denn Bahnfahren macht mich schläfrig. Anschliessend nehme ich den markierten Weg nach Westen unter die Füsse und folge ihm an verstreuten Hütten vorbei und über ein paar Bachläufe hinüber ins Val Pozzuolo. Der Blick auf die andere Talseite zeigt die weit hinaus gezogene Kehre der Passstrasse über den Gotthard und zur Linken erhebt sich eine Reihe stattlicher Gipfel.
Im Val Ruinò stosse ich auf die Hütten von Grasso Fondo und gleich darüber liegt die Alpe di Ruinò. Mehrere Bäche entwässern die Nordflanke des Poncione di Vespero. Noch vor einigen Jahren fanden sich hier grössere Schneefelder, die auch den Sommer überdauerten. Davon ist nichts mehr zu sehen.
Der Weg zieht in weitem Bogen hinein ins Val Torta das sich der Ri di Cristallina geschaffen hat. Hier liegt auch die Alp, zwischen zwei weiteren Bächen. Zu trinken haben die Viecher hier also sicher genug und bunte Wiesen sind auch keine Rarität.
Von nun an geht‘s bergab. Stabiello Grande lasse ich links liegen und strebe unaufhaltsam dem Talboden zu. Dort rauscht der junge Ticino zwischen grossen Steinen und sammelt Wasser von beiden Talseiten. Den letzten, den ich überquere, hat auf der Karte keinen Namen, das Dorf jedoch schon. Es ist Bedretto, und es verfügt über eine Haltestelle für das Postauto.
Durch das Bedrettotal führt der Nufenenpass, welcher den Tessin mit dem Wallis verbindet. Diese Strasse wurde ab dem Jahr 1964 erbaut und fünf Jahre später feierlich eröffnet. Im Zusammenhang mit dem Bau des Furka-Basistunnels 20 Jahre später, träumten die Tessiner von einem Zugangsstollen, der jedoch lediglich dazu benützt wurde, das Ausbruchmaterial abzuführen. Die Kostenüberschreitung verhinderte den Vollausbau ins Bedretto.
Mit einer Scheitelhöhe von 2480 müM. ist der Nufenen die höchste Passstrasse in der Schweiz. Von hier aus geniesst der Reisende einen fantastischen Blick nach Norden auf die gesamte Kette der Berner Alpen mit dem mächtigen Finsteraarhorn, nach Westen auf den Griesgletscher mit dem künstlich aufgestauten Griessee, nach Süden auf das stattliche Grieshorn mit fast 3000 Metern Höhe und nach Osten ins Val Bedretto.
Nicht weit vom Hospiz entspringt der Ticino mit zahlreichen kleinen Bachläufen zu seiner beinahe 250 Kilometer langen Reise bis zur Mündung in den Po. An seinen Ufern in der Nähe von Pavia kämpften eins die Römer gegen Hannibal aus Karthago, aber das war im Jahr 218 vor Christus.
Beim letzten Weiler im Bedrettotal, All‘Acqua, zweigt ein Saumpfad ab nach Süden. Er führt durch die ausgedehnte Alpe di Formazzora zum Passo San Giacomo, der auf der italienischen Seite durch ein schmales Strässchen erschlossen ist. Bei dieser Verzweigung stand früher das Hospiz, das den Säumern Unterkunft gewährte und wo sie die Pferde wechseln konnten. Heute finden wir neben einigen Hütten noch ein Gasthaus und eine Kapelle.
Das mausarme Bedrettotal erreichte während der letzten Jahrhunderte eine traurige Berühmtheit, weil von hier viele Kinder nach Italien als Schornsteinfeger verdingt werden mussten, um die zurück gebliebene Familie ernähren zu helfen. Die Vieh- und Milchwirtschaft warf schon damals nicht genug ab, und für Ackerbau war sowohl der Boden als auch die Topografie nicht geeignet. Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen viele Familien aus dem Tal ab, sodass die Gemeinde Bedretto noch etwa 70 Einwohner zählt, die während des ganzen Jahres hier wohnen.